„Zum Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit“

Sie haben mich gebeten, an der heutigen SVP-Versammlung ein Referat zum
Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit zu halten. Das will ich gerne tun.
Schliesslich ist es mein Auftrag als…

Christoph Blocher
Christoph Blocher
Bundesrat Herrliberg (ZH)

Sie haben mich gebeten, an der heutigen SVP-Versammlung ein Referat zum
Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit zu halten. Das will ich gerne tun.
Schliesslich ist es mein Auftrag als Bundesrat, Massnahmen zur Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz zu treffen. So steht es in der Bundesverfassung.

Den Wert der schweizerischen Unabhängigkeit kann man am besten ermessen,
wenn man die Schweiz und die EU miteinander vergleicht. Wo sind die Unterschiede
zwischen der Schweiz und der EU? Was machen wir anders als die EU?
Dazu muss man sich fragen: Was ist das Ziel der EU? Was ist das Ziel der
Schweiz? Wozu sind diese Bündnisse geschaffen worden?

Das Bündnis der Kantone in der Eidgenossenschaft hat zum Ziel, die Unabhängigkeit
und die Unterschiedlichkeit der einzelnen Kantone zu wahren. Es war nie das
Ziel der Eidgenossenschaft, dass alle Kantone gleich werden sollen. In einem
Land mit vier Kulturen würde so etwas ohnehin völlig an der Realität der Menschen
vorbeigehen. Die Eidgenossenschaft entstand, weil man die eigene Identität
nach aussen, gegen Grossmächte und grosse Reiche, verteidigen wollte.

Ganz anders in der EU: Ziel der EU ist die Harmonisierung, die Gleichheit. Die
Verbindung der verschiedenen Länder soll immer enger werden. So steht es in der
Präambel der neuen EU-Verfassung. Immer mehr Unterschiede sollen ausgeglichen
werden. Die EU hat letztlich zum Ziel, dass in ganz Europa das Gleiche gelten
soll.

Die Verbindung der Kantone zur schweizerischen Eidgenossenschaft und die Verbindung
der europäischen Länder zur EU verfolgen also zwei völlig unterschiedliche
Ziele.

Die Unabhängigkeit der Schweiz äussert sich darin, dass sie die Freiheit hat, eigene
Wege zu gehen, d.h. auch aus der Vereinheitlichung der Europäischen Union
auszubrechen. Im Gegensatz zu unseren Nachbarländern haben wir die Freiheit,
Gesetze zu erlassen und beizubehalten, die nicht den Einheitsregeln der EU entsprechen.
In welchen Bereichen ist das heute von Bedeutung? Ich kann Ihnen dazu
einige Beispiele nennen:

1. Direkte Demokratie
Die Schweiz ist eine direkte Demokratie. Die schweizerische Bundesverfassung
kann nicht geändert werden, ohne dass in einer Volksabstimmung eine Mehrheit
des Volkes und der Kantone zustimmt. Auch bei Gesetzesänderungen oder beim
Abschluss internationaler Verträge kann das Volk mitreden. Ganz anders in der
EU: Das Volk ist grundsätzlich von solchen Entscheiden – und seien sie noch so
wichtig – ausgeschlossen. Die Deutschen durften sich nicht dazu äussern, ob sie
ihre Währung behalten wollen. Die Engländer hatten kein Recht zu sagen, ob sie
mit der Osterweiterung einverstanden sind. Zur EU-Verfassung wurde nicht in allen
Staaten eine Abstimmung durchgeführt. Aus Schweizer Sicht tönt dies so: Die
Politiker hatten gnädigerweise entschieden, dass das Volk zu diesem grossen Projekt
der Verfassung seine Meinung abgeben darf. Das Resultat der Abstimmung ist
bekannt.

Die direkte Demokratie hat den grossen Vorteil, dass im Sinne des Volkes und
nicht nur im Sinne der Politiker entschieden wird. Warum ist die Mehrwertsteuer in
der Schweiz viel tiefer als in der EU? Weil bei uns der Steuersatz in der Verfassung
verankert ist. Bei jeder Steuererhöhung muss das Volk gefragt werden, ob es einverstanden ist. Oftmals ist es nicht einverstanden. Wenn die Politiker das Volk
nicht fragen müssen, steigen die Steuern viel stärker an. Die EU schreibt den Ländern
vor, dass der Mindestsatz 15% betragen müsse. Da können sie abstimmen,
solange sie wollen. Es gilt das, was die EU bestimmt.

2. Wirtschafts- und Währungspolitik
Mit dem Vertrag von Maastricht 1993 hat die EU eine Wirtschafts- und Währungsunion
eingeführt. Die Mitgliedsländer haben damit ihre Unabhängigkeit insbesondere
in der Währungspolitik aufgegeben. Die nationalen Währungen wurden durch
den Euro als Einheitswährung abgelöst. Die Schweiz bleibt dagegen frei, ihre eigene
Währung weiterzuführen. Der Schweizer Franken hat gegenüber dem Euro
einen Zinsvorteil, der für unser Land und unsere Wirtschaft von grosser Bedeutung
ist. Ohnehin sind wir frei, die Leitzinsen so auszugestalten, wie es den Bedürfnissen
unserer Wirtschaft entspricht. Wenn die Wirtschaft gut läuft, kann die Schweizerische
Nationalbank die Zinsen erhöhen. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft,
kann sie die Zinsen senken. Die EU-Länder müssen sich demgegenüber den Beschlüssen
der europäischen Zentralbank unterwerfen. Doch wie entscheidet diese
Zentralbank, wenn ein Land in einer Rezession ist und ein anderes Land in der
Hochkonjunktur? Wie sind die Zinsen dann festzulegen? Der Euro verunmöglicht
eine Währungspolitik, welche den Bedürfnissen der nationalen Volkswirtschaften
entspricht. Einheitsbrei statt Eingehen auf Unterschiede.

Die Unabhängigkeit der Schweiz heisst Handlungsfreiheit. Diese erlaubt uns, eine
eigenständige Aussenwirtschaftspolitik zu führen. Möglicherweise wird die
Schweiz schon bald mit den USA über ein Freihandelsabkommen verhandeln. Als
EU-Mitglied könnte sie solches nicht eigenständig unternehmen. Die EU sagt, mit
wem Freihandel betrieben wird. Ein anderes Beispiel: Der Bundesrat hat kürzlich
das Freihandelsabkommen mit Südkorea genehmigt. Die Schweiz erhält damit
freien Zugang zu einer der zehn grössten Volkswirtschaften der Welt. Bisher haben
weder die EU noch die USA ein solches Abkommen abschliessen können.
Jedes Jahr exportieren Schweizer Unternehmungen im Wert von über einer Milliarde
Franken nach Korea. Hier wird der Vorteil der Unabhängigkeit ganz konkret
spürbar.

3. Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Als weiteren Bereich, den die EU vereinheitlicht hat, ist die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu nennen. Die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik
umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der EU betreffen. Dazu gehört
auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu
einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Die EU wird so zu einem Verteidigungsbündnis. Doch nicht nur das. Die EU hat sich in der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ vom Dezember 2003 auch die Stärkung der Sicherheit in ihrer
Nachbarschaft zum Ziel gesetzt. Dabei werden die Länder im Osten der EU, der
Balkan und der Mittelmeerraum genannt. Es ist aber auch davon die Rede, „Einfluss
im Weltmassstab“ ausüben zu wollen. Die EU nimmt Züge eines Imperiums
an, das sich nicht auf das eigene Territorium beschränkt, sondern auch ausserhalb
Einfluss nehmen will. Ich will nicht beurteilen, ob das richtig ist oder nicht. Es war
schon immer so, dass grosse Machtblöcke Einfluss auf andere Länder nahmen.
Doch lässt sich die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nicht mit
der schweizerischen Neutralität vereinbaren
. Innerhalb der EU büsst die
Schweiz ihre bewährte, jahrhundertealte und immerwährende Neutralität ein. Diese
Politik hat uns als Kleinstaat immer wieder davor bewahrt, in die Kriege
der Grossmächte hineingezogen zu werden.

Sie sehen in diesen drei Bereichen beispielhaft, welcher Stellenwert der schweizerischen
Unabhängigkeit zukommt. Es wären noch viele weitere Gebiete zu erwähnen,
etwa die Arbeitsmarktpolitik, das Bankkundengeheimnis, die Sozialpolitik,
die Agrarpolitik oder die finanziellen Konsequenzen eines Verzichts auf die
Unabhängigkeit. Es ist klar, dass der Bundesrat bei der Verabschiedung seines
europapolitischen Berichtes, der für nächstes Jahr angekündigt ist, sich mit diesen
Fragen auseinandersetzen muss. Es ist auf eine objektive Darstellung zu hoffen.

Die Handlungsfreiheit unseres Landes schafft wesentliche Voraussetzungen für
die Gewährleistung und Stärkung von Wohlstand und Sicherheit. Leider wurde der
Spielraum, welchen die Schweiz dank ihrer Unabhängigkeit hat, in den letzten Jahren
viel zu wenig ausgenutzt. Zu gross war in Verwaltung und Politik das Verlangen,
sich der EU anpassen zu wollen. Der Drang, gleich sein zu wollen wie die anderen,
war zu stark. EU-kompatibel wollte man sein, gleich wie die EU. Es ist erfreulich,
dass der Bundesrat beschlossen hat, die künftigen, bilateralen Verträge nur noch zuzulassen, wenn diese die Handlungsfreiheit der Schweiz nicht beeinträchtigen,
d.h. im Klartext, nur bilaterale Verträge ohne institutionelle Bindung.

Es ist unser Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit
der Schweiz wieder viel mehr genutzt wird, um von der EU abweichende
Gesetze zu erlassen. Als Unternehmer hatte ich nie Erfolg, weil ich gleich war wie
die Konkurrenz. Ich war dort erfolgreich, wo ich anders war, wo ich besser war.
Genauso muss es mit unserem Staat sein. Die Staaten stehen in einem Wettbewerb
darum, wer die besten Rahmenbedingungen für eine gedeihliche wirtschaftliche
Entwicklung bietet. Die Schweiz hat dank ihrer Unabhängigkeit die Möglichkeit,
sich diesem Wettbewerb zu stellen. Wir müssen nach Wegen suchen, wie wir
uns von den anderen Ländern unterscheiden können. Das Ziel der Politik darf
nicht darin bestehen, gleich zu werden wie die EU, sondern besser zu werden. Nur
dann macht die Unabhängigkeit Sinn. Nur dann zieht die Schweiz einen echten
Nutzen aus ihrer Unabhängigkeit. Oder wenn sie noch mehr Fremdwörter wollen!
EU-Kompatibilität, d.h. gleich zu sein wie die EU ist kein Ziel. Ziel muss sein: EU-Kompetitivität-Wettbewerbsfähig gegenüber der EU müssen wir sein. Natürlich
braucht diese Haltung Kraft und Mut. Ich treffe sie in der Schweizer Wirtschaft und
bei vielen Leuten an. Damit dies auch in der Politik so geschieht, dafür haben wir
beiden Bundesräte im Bundesrat, die Parlamentarier im Parlament und sie in der
SVP-Partei zu sorgen. Im Interesse und zum Wohl unseres Landes!

Christoph Blocher
Christoph Blocher
Bundesrat Herrliberg (ZH)
 
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