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Aussenpolitik
Editorial

Schengen: verschweigen und verdrängen

Unter dem technischen Titel „Inhaberinnen und Inhaber von Visa D dürfen neu im gesamten Schengen-Raum reisen" hat der Bundesrat in der vergangenen Woche erneut eine Weiterentwicklung …

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)

Unter dem technischen Titel „Inhaberinnen und Inhaber von Visa D dürfen neu im gesamten Schengen-Raum reisen“ hat der Bundesrat in der vergangenen Woche erneut eine Weiterentwicklung des Schengen-Rechts durchgewunken. Die Änderung bringt Erleichterungen bei der Einreise von Ausländern in die Schweiz und damit einen weiteren Abbau der Steuerungsmöglichkeiten im Migrationsbereich. Was der Bundesrat verschweigt: Stand heute musste die Schweiz seit dem Beitritt zu Schengen vor 1 ½ Jahren bereits über 100 Weiterentwicklungen des Schengenrechts übernehmen, ohne dass sie über deren Einführung mitbestimmen konnte. Darüber redet der Bundesrat nicht gerne und auch nicht über die immensen Folgekosten, welche sich die Schweiz mit Schengen bereits eingehandelt hat. Das Schengen-Dossier ist geprägt von konsequentem Verschweigen und Verdrängen.

Mehr Sicherheit und beträchtliche Einsparungen hat der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein zu Schengen 2005 versprochen. Zudem sollen Souveränität und direkte Demokratie gewahrt bleiben. Die tatsächlichen Folgen sehen anders aus. Über 100 Weiterentwicklungen des Schengenrechts musste die Schweiz seit Ende 2008 übernehmen. Der Souveränitätsverlust ist beträchtlich. Frühere Volksentscheide wurden damit ebenso zur Makulatur wie die eigenständige Steuerung der Migrationspolitik, z.B. bezogen auf die Balkanländer. Um wie viel sicherer Schengen die Schweiz gemacht hat, zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik des vergangenen Jahres. Nicht weniger als 14 % der Straffälligen sind heute Kriminaltouristen. Die Grenzregionen leiden immer stärker unter den weggefallenen Grenzkontrollen. Bereits 2008 musste der Bundesrat zugeben, dass die im Bundesbüchlein von 2005 veranschlagten jährlichen Kosten von 7,4 Millionen Franken für Schengen effektiv bei rund 50 Millionen Franken pro Jahr liegen. In Tat und Wahrheit dürften mit den laufenden Anpassungen die Vollkosten noch deutlich höher liegen. Nur darüber spricht der Bundesrat nicht. Lieber verschweigt er konsequent die Folgen von Schengenanpassungen.

Freie Fahrt für Asylbewerber?
Ein kleines Beispiel für die Verschleierungstaktik des Bundesrates zeigt beispielsweise eine Anpassung vom 20. Januar 2010. Unter dem Titel „Verordnung über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen tritt am 1. März 2010 in Kraft“ gab der Bundesrat die Anpassung der rechtlichen Grundlagen für die Einführung biometrischer Daten in den Pässen und Reisedokumenten, welche die Schweiz als Schengen-Staat nachvollzieht, bekannt. In seiner technisch gehaltenen Medienmitteilung verschweigt der Bundesrat, dass er gleichzeitig die geltenden Reiserestriktionen für Personen mit hängigem Asylverfahren lockert und jene für vorläufig Aufgenommene sogar ganz aufhebt. Damit geht er noch über die von Schengen geforderten Anpassungen hinaus. Weshalb sollen vorläufig Aufgenommene, also auch abgewiesene Asylbewerber, die keinen Asylgrund vorweisen können, die aber nicht in ihr Herkunftsland zurückgeschafft werden können, ohne Angabe eines Reisegrundes beliebig ins Ausland reisen können? Wieso sollen Asylbewerber neu an Sport- und Kulturanlässen im Ausland teilnehmen? Und weshalb verschweigt der Bundesrat die mit diesen Anpassungen einhergehende klare Steigerung der Attraktivität der Schweiz als Asylland? Nur wer den alten und den neuen Verordnungstext im Detail verglichen hat, ist auf diese Anpassung gestossen (Verordnung über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen RDV).

Die Migrationspolitik der Schweiz wird immer mehr zu einer Geschichte des Verschweigens und Verdrängens.

 

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)
 
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