
Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz–EU
Direktdemokratische und verfassungsrechtliche Argumente sprechen klar gegen eine Annahme des Pakets. Allfällige kurzfristige wirtschaftliche Vorteile vermögen daran nichts zu ändern. Die Administration, die Eingriffe und die Kompromisse sind klar zu weitreichend. Das Ziel eines Wirtschaftsraums mit gleichen Wettbewerbsbedingungen (dazu gehören Vorschriften zu staatlichen Beihilfen, Umweltstandards, Arbeitsrecht und Steuertransparenz) ist für eine offene und bisher erfolgreiche Volkswirtschaft wie die Schweiz kaum erstrebenswert. «Gleichmacherei», die den Wettbewerb ausschaltet, die Vielfalt zerstört und bisher hoch gehaltene Wettbewerbsvorteile zum Ver- schwinden bringt ist kein Fortschritt. Der Kanton fordert Verträge, welche die föderale Ordnung und die kantonalen Steuerungskompetenzen bewahrt, eine verbindliche und institutionalisierte Mitwirkung der Kantone bei der Rechtsübernahme und Umsetzung allen neuen Rechts sicherstellt und schleichende Zentralisierungstendenzen stoppt. Ferner lehnt der Kanton Schwyz die Unterstellung des Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Stabilisierung der bilateralen Beziehungen unter das fakultative Staatsvertragsreferendum ab und fordert die Unterstellung unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum.
Personenfreizügigkeit
Mit dem Änderungsprotokoll zum Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit haben sich die Schweiz und die EU auf die «Aufdatierung» der Regeln zur Personenfreizügigkeit geeinigt. Das Freizügigkeitsabkommen umfasst nebst der Zuwanderung und der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung (inkl. Lohnschutz) auch die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Dieser Geltungsbereich des FZA bleibt durch das Änderungsprotokoll im Grundsatz unverändert. Die Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) wird jedoch auf die Schweiz ausgedehnt und mit einem dreistufigen Schutzkonzept verknüpft, welches Ausnahmen und Absicherungen umfasst sowie durch die Schutzklausel ergänzt wird.
Der Kanton Schwyz lehnt die Anpassungen im Bereich der Personenfreizügigkeit ab. Im Grundsatz übernimmt die Schweiz die Richtlinie «über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten». Einzelne Bereiche, die in der Richtlinie verankert sind, konnte die Schweiz abwehren, doch im Grundsatz werden hierzulande künftig dieselben Regeln zum Aufenthalt gelten wie in der EU. Der massgeblichste Teil ist das sog. Daueraufenthaltsrecht. Die EU gewährt allen ihren Bürgern und deren Familienangehörigen nach fünf Jahren das Recht, dauerhaft im Land zu bleiben – unabhängig davon, ob die Leute arbeiten oder nicht.
Daueraufenthalt bedeutet: Die Person kann sich unbefristet im neuen Land niederlassen. Sie verliert ihr Recht nur dann, wenn sie für mindestens zwei Jahre weggeht. Der Bezug von Sozialhilfe ändert am Recht auf Daueraufenthalt hingegen nichts.
Anders als in der EU, soll das dauerhafte Aufenthaltsrecht in der Schweiz nur dann gelten, wenn ein EU-Bürger während fünf Jahren hier gearbeitet hat. Braucht ein EU-Bürger in der Schweiz Sozialhilfe, gilt er während dieser Zeit jedoch weiterhin als Erwerbstätiger. Nur wenn die Sozialhilfe länger als sechs Monate dauert, wird die Fünfjahresfrist unterbrochen. Auch spielt es keine Rolle, ob während der fünf Jahre in der Schweiz Arbeitslosengelder bezogen werden. Denn auch ein Arbeitsloser behält seinen Status als Erwerbstätiger, sofern er sich bei der Arbeitsvermittlung meldet. Damit ist es möglich, dass ein EU- Bürger in die Schweiz kommt, dreieinhalb Jahre arbeitet und dann anderthalb Jahre arbeitslos ist. Nach fünf Jahren hat er Anspruch auf das Daueraufenthaltsrecht. Das neue Daueraufenthaltsrecht gilt überdies nicht nur für den EU-Bürger allein, sondern auch für seine Familienangehörigen, egal, welcher Nationalität sie sind. Dazu zählen der Ehegatte, die Kinder und Enkel, wenn sie noch nicht 21 Jahre alt sind, sowie die Eltern oder Grosseltern, sofern sie von ihren Verwandten unterstützt werden.
Auch die Familie des Ehegatten kann unter denselben Bedingungen einreisen. Die Grösse der Wohnung soll überdies neu kein Kriterium mehr sein. Ferner muss die Schweiz weitere Anpassungen vornehmen, um dem europäischen Recht zu genügen. Etwa bei der Scheidung: Zieht ein EU-Bürger mit seinem Ehegatten, der aus einem Drittstaat stammt, in die Schweiz und scheitert die Ehe vor Ablauf der fünf Jahre, die zum Daueraufenthalt berechtigen, kann der geschiedene Gatte künftig einfacher in der Schweiz bleiben. Er verliert sein Aufenthaltsrecht nicht mehr, sofern die Ehe mindestens drei Jahre gedauert hat und ein Jahr davon in der Schweiz gelebt wurde.
Insgesamt wird die Zuwanderung in die Schweiz mit dem neuen Abkommen einfacher. Dies wirft auch verfassungsrechtliche Fragen auf. 2014 hiessen Volk und Stände die Initiative gegen die Masseneinwanderung gut, sie steht seither als Art. 121a Abs. 1 in der Bundesverfassung. Die Bestimmung sieht vor, dass die Schweiz die Zuwanderung eigenständig steuert, und sie hält fest: «Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen.» Diese eigenständige Steuerung der Zuwanderung bedeutet, dass die Schweiz selbst über die Art und den Umfang der Zuwanderung von Ausländern entscheidet, ohne andere Staaten, internationale Organisationen oder supranationale Gemeinschaften miteinzubeziehen. Mit eigenständiger Steuerung der Zuwanderung ist gemeint, dass die Schweiz in quantitativer und qualitativer Hinsicht allein entscheidet und nicht durch völkerrechtliche Verpflichtungen dazu gebracht werden kann, die Kontrolle über die Zuwanderung zu verlieren oder zu übertragen. Die Vorlage müsste somit zumindest mit einer Verfassungsänderung verbunden sein. Der Bundesrat lehnt dies mit der Begründung ab, dass die Zahl der Personen, die vom erleichterten Familiennachzug Gebrauch machen werde, nicht gross sein dürfte. Tatsache ist aber, dass seit Einführung der Personenfreizügigkeit jährlich netto acht Mal mehr Personen in die Schweiz kamen als prognostiziert.
Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass das Freizügigkeitsabkommen nicht zu einer erhöhten Zuwanderung führen würde, wäre Art. 121a BV nicht eingehalten, weil mit der dynamischen Rechtsübernahme die Schweiz zukünftige Änderungen (z. B. beim Familiennachzug) im Bereich der Zuwanderung übernehmen müsste. Auch wenn ein gewisses Schutzkonzept ausgehandelt werden konnte, ändert sich nichts an der Tatsache, dass die Schweiz mit der dynamischen Rechtsübernahme die Zuwanderung von Ausländern nicht eigenständig gemäss Art. 121a BV steuern kann. Die ausgehandelte Schutzklausel dürfte in der Praxis kaum Anwendung finden, da der Nachweis, dass schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme auf die Personenfreizügigkeit und nicht auf andere Umstände (Flüchtlingswesen, Wirtschaftskrise) zurückzuführen sind, nicht gelingen dürfte.
Dynamische Rechtsübernahme
Die Binnenmarktabkommen müssen regelmässig an die relevanten Entwicklungen des EU-Rechts angepasst werden. Die Schweiz und die EU sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Rechtsakte der EU, die in den Bereichen des Abkommens erlassen werden, nach ihrer Verabschiedung so rasch wie möglich in das Abkommen integriert werden. Die Verpflichtung beschränkt sich auf EU-Rechtsakte, die in den Bereichen des Abkommens erlassen wurden, das heisst, die in den Geltungsbereich und die Ziele des Abkommens fallen. Die Rechtsübernahme erfolgt nicht automatisch. Ein Automatismus würde bedeuten, dass die EU-Rechtsakte nach der Verabschiedung direkt ins Abkommen integriert würden, ohne dass ein Handeln der Schweiz und der EU erforderlich wäre. Vielmehr setzt jede Übernahme eines neuen EU-Rechtsakts in ein Abkommen einen individuellen Beschluss der Schweiz und der EU voraus («Integrationsverfahren»). Die Parteien haben keine Frist für die Erfüllung dieser Integrationspflicht definiert. Es wird lediglich festgelegt, dass die Rechtsakte «so rasch wie möglich» integriert werden müssen.
Der Kanton Schwyz lehnt die dynamische Rechtsübernahme ab. Diese erfolgt nach dem sogenannten Integrationsverfahren. Bei der Integrationsmethode werden die in die Abkommen integrierten EU-Rechtsakte allein durch ihre Integration in das Abkommen Teil der Schweizer Rechtsordnung. Diese Rechtsakte werden von der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet, ohne dass sie in das Landesrecht überführt werden müssen. Dies geschieht im Gemischten Ausschuss. Sollte die (nicht demokratisch legitimierte) Schweizervertretung im Gemischten Ausschuss nicht anmelden, dass eine Regulierung auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe einzuordnen und damit dem Referendum zu unter- stellen wäre, wäre dieses verwirkt. Muss die Schweiz hingegen das Landesrecht anpassen, weil es den Bestimmungen der integrierten EU-Rechtsakte widerspricht oder wenn eine Präzisierung derselben notwendig ist, sollen die verfassungsrechtlich garantierten Initiativ- und Referendumsrechte weiterhin gewährleistet bleiben. Dies mag theoretisch so sein. In der Praxis ist dem nicht so. Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme bringt einen fundamentalen Wechsel bei Abstimmungen. Der Bundesrat wird in den Abstimmungserläuterungen schreiben, dass die Stimmberechtigten zum neuen EU-Rechtsakt «Ja» sagen müssen, weil das völkerrechtlich so vereinbart wurde. Ein «Nein» wäre quasi völkerrechtswidrig. Bei einem «Nein» müsste die Schweiz Ausgleichsmassnahmen gewärtigen. Das Volk kann zwar noch abstimmen, aber es hat faktisch gar keine echte Wahl mehr.
Solche Abstimmungen würden vom Stimmvolk nicht mehr ernst genommen und verkämen zu reinen Alibi-Abstimmungen. Das höchste Gut im Land, die Demokratie, würde ausgehöhlt. Ferner zeigt die im Erläuterungsbericht kurze Abhandlung der Auswirkungen auf die Kantone, Gemeinden, urbanen Zentren, Agglomerationen und Berggebiete die geringe Relevanz, welche dem Föderalismus und den Kantonen bei diesem Paket zukommt. Bei der dynamischen Rechtsübernahme bildet das entsprechende EU-Recht die Grundlage, welche bei der Integrationsmethode übernommen werden muss.
Vernehmlassungen bei den Kantonen verkommen deshalb zu Alibi-Umfragen. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung der Kantone hat keine Relevanz mehr. Vermutlich werden die Kantone noch stärker durch die KdK, deren demokratische Legitimität nicht jener einer Kantonsregierung entspricht, vertreten und einbezogen, was die Rolle der 26 Kantonsregierungen nochmals schwächt. Zwar bleibt das Recht der Kantone, Standesinitiativen einzureichen oder ein Kantonsreferendum zu ergreifen, das acht Kantone gegen Bundesgesetze und bestimmte Bundesbeschlüsse erwirken können, bestehen. Die Kantone können auch weiterhin von diesen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen, wenn sie gegen die Übernahme eines neuen EU-Rechtsaktes in ein betroffenes Abkommen bzw. allfällige damit zusammenhängende neue bundesgesetzliche Regelungen vorgehen wollen. Die damit verbundenen Volksabstimmungen verkommen jedoch wieder zu Alibiabstimmungen mangels echter Abstimmungsfreiheit.
Referendum
Gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV werden Volk und Ständen der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften zur Abstimmung unterbreitet. Ein An- wendungsfall für das obligatorische Staatsvertragsreferendum unter dem Titel des Beitritts zu einer supranationalen Gemeinschaft war die Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Dabei wurde argumentiert, der supranationale Charakter ergebe sich u. a. aufgrund der automatischen Übernahme von neuem Unionsrecht. Der Bundesrat war von der Anwendung des obligatorischen Staatsvertragsreferendum nicht überzeugt, unterwarf das EWR-Abkommen jedoch dem sog. «obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis», also einem obligatorischen Staatsvertragsreferendum eigner Art. Für die Stimmbürger macht es selbstverständlich keinen Unterschied, ob das obligatorische Staatsvertragsreferendum oder das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis zur Anwendung kommt. Auch beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund im Jahr 1920 und das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1972 wurden – obwohl gemäss rechtlichen Gutachten kein klassischer Anwendungsfall vom Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV vorlag – aufgrund deren Bedeutung dem Ständemehr unterstellt.
Der Kanton Schwyz ist überzeugt, dass auch der Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Stabilisierung der bilateralen Beziehungen dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum bzw. dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis zu unterstellen ist. Auch das vorliegende Vertragswerk sieht grundsätzlich vor, dass der Europäische Gerichtshof die Auslegung von Bestimmungen vornimmt, die auch im Unions- recht vorkommen und dessen Entscheide für das Schiedsgericht bindend sind. Im Ergebnis ähnelt dieses Verfahren dem im Unionsrecht vorgesehenen Vertragsverletzungsverfahren; die Überwachung der Vertragstreue wird damit quasi an die EU ausgelagert.
Auch wenn die Schweiz die Übernahme dieses Recht gemäss innerstaatlichen Verfahren ablehnen könnte, stünde sie unter dem Druck drohender Ausgleichsmassnahmen, was die freie Willensbildung im Parlament und allenfalls auch im Volk beeinträchtigt.