Vernehmlassung

05.445 Parlamentarische Initiative. Verfassungsgerichtsbarkeit

Die SVP lehnt den Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates ab und fordert Nichteintreten. Die vorgeschlagene Streichung von Art. 190 BV würde eine Schwächung der Volksrechte…

05.445 Parlamentarische Initiative. Verfassungsgerichtsbarkeit

07.476 Parlamentarische Initiative. Bundesverfassung massgebend für rechts-anwendende Behörden

Vernehmlassung zum Vorentwurf der Kommission

Vernehmlassungsantwort der Schweizerischen Volkspartei (SVP)

Die SVP lehnt den Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates ab und fordert Nichteintreten. Die vorgeschlagene Streichung von Art. 190 BV würde eine Schwächung der Volksrechte bedeuten, einem Richterstaat Vorschub leisten und zu einer verstärkten Politisierung der Justiz führen. Ein Gesetz, welches die Verfassung konkretisiert, hat eine höhere demokratische Legitimation, als ein Gerichtsentscheid. Eine Streichung von Art. 190 BV würde dazu führen, dass Richter über die Köpfe des Parlaments und der Bevölkerung hinweg Bundesgesetze oder Teile davon für verfassungswidrig erklären könnten, obwohl Parlament und Volk das entsprechende Bundesgesetz bewusst so formulierten und andere Faktoren stärker gewichteten als Verfassungsbestimmungen, die aufgrund ihrer Formulierung verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zulassen. Die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit würde zu einer bedeutsamen Rechtsunsicherheit führen, weil auf die Vorschriften in Bundesgesetzen kein Verlass mehr wäre. Andererseits wäre mit einer Pattsituation zu rechnen, wenn der Gesetzgeber nicht den Entscheiden des Bundesgerichts entsprechend legiferierte. Schliesslich würden die Gerichtsverfahren länger dauern und mehr Kosten verursachen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit zeugt von Misstrauen gegenüber dem Parlament und dem Volk. Dafür gibt es in der Schweiz jedoch keinen Grund. Ein dem Willen des Souveräns gerecht werdendes System der Massgeblichkeit könnte nur durch Streichung der Verbindlichkeit des Völkerrechts in Art. 190 BV erreicht werden.

„Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend“ (Art. 190 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [BV]). Dies bedeutet, dass Bundesgesetze und völkerrechtliche Bestimmungen von den Gerichtsbehörden (sowie allen rechtsanwendenden Behörden von Bund und Kantonen) auch dann anzuwenden sind, wenn es diese Erlasse (oder Teile davon) im konkreten Anwendungsfall für verfassungswidrig hält. Die Gerichte sind zwar berechtigt, im konkreten Fall die Verfassungsmässigkeit zu prüfen und festzustellen, dass diese nicht gegeben ist, müssen die ihrer Meinung nach verfassungswidrige Bestimmung jedoch trotzdem anwenden. So stellte das Bundesgericht beispielsweise am 26. Oktober 2005 fest, dass Art. 11 Abs. 1 Satz 2 Steuerharmonisierungsgesetz (StHG) verfassungswidrig sei, da das Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 BV) und das Prinzip der leistungskonformen Besteuerung (Art. 127 BV) verletzte sei. In BGE 125 III 209, BGE 126 I 1 und BGE 132 I 68 stellte das Bundesgericht fest, dass die geltende Bürgerrechtsregelung sowie die Regelung des Familiennamens dem Verfassungsgrundsatz der Gleichbehandlung widerspricht. Die Auslegung durch das Bundesgericht zeigte, dass sich der Gesetzgeber der verfassungsrechtlichen Problematik beim Erlass dieser Bestimmung bewusst war und aus familienpolitischen Überlegungen so legiferierte.

Die Bestimmung in Art. 190 BV bezeichnet einerseits die Bundesgesetze und andererseits das Völkerrecht als verbindlich.

Dass in Art. 190 BV nicht auch die Bundesverfassung als massgebend (bindend) bezeichnet wird, liegt nicht daran, dass die Bundesverfassung weniger schutzwürdig wäre, als ein Bundesgesetz. Wäre auch die Bundesverfassung als bindend in Art. 190 BV aufgeführt, müssten die rechtsanwendenden Behörden jeweils prüfen, ob nicht ein allgemeiner Grundsatz der Bundesverfassung diesem Bundesgesetz widerspricht. Da die Verfassungsnormen (insbesondere die Grundrechte) in der Regel allgemein formuliert sind, ist ein Widerspruch schnell hineininterpretiert. So entstünde eine enorme Rechtsunsicherheit. Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit geht es somit nicht um die Frage, ob verfassungswidrige Gesetze massgeblich sein sollen, sondern darum, wer für die Konkretisierung unbestimmter Verfassungsbegriffe zuständig sein soll. Ein weiterer Grund, weshalb die Bundesverfassung in Art. 190 BV nicht als bindend aufgeführt ist, liegt daran, dass der Bundesgesetzgeber aus politischen Gründen in Einzelfällen bewusst eine Norm erlässt, die der Verfassung widerspricht. Nur dank der Formulierung von Art. 190 BV ist dieses Vorgehen geschützt. So hat der Gesetzgeber in Bezug auf die Höhe der AHV wohl verfassungswidrig entschieden, als er die Ehepaarrente auf eineinhalb Renten festsetzte und nicht auf zwei volle Renten wie bei ledigen Paaren. Hier fahren Ehepaare finanziell schlechter als nicht verheiratete Paare. Zum einen spielten finanzielle Überlegungen zugunsten der AHV eine Rolle, andererseits fahren verheiratete Paare dagegen im Erbrecht sowie im Witwenrecht besser, im Steuerrecht dagegen schlechter. Aufgrund dieser Gesamtüberlegungen hat der Gesetzgeber entschieden und sich nicht stur an den Verfassungsgrundsatz der Rechtsgleichheit gehalten. Nur dank der Formulierung in Art. 190 BV und der Ausklammerung der Bundesverfassung im Wortlaut dieser Bestimmung war es dem Gesetzgeber möglich, solche breite Überlegungen in einem Bundesgesetz durchzusetzen. Mit der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit durch Streichen von Art. 190 BV wäre ein solches Vorgehen für den Gesetzgeber nicht mehr möglich. Auch das Volk entscheidet zum Teil bewusst gegen einen Verfassungsgrundsatz. In der Schweiz liegt das Rentenalter derzeit bei 64 Jahren für Frauen und bei 65 Jahren für Männer. Anlässlich der Abstimmung über die 11. AHV-Revision am 16. Mai 2004 hat das Schweizer Volk die von der Bundesversammlung beschlossene Gleichstellung mit 67.9 % abgelehnt und eine Erhöhung des Rentenalters der Frau auf 65 Jahre abgelehnt. Das Volk hat hier bewusst gegen die Verfassung verstossen und Frauen und Männer ungleich behandelt. Das Volk hat andere Faktoren stärker gewertet, als den Gleichbehandlungsgrundsatz. Warum soll dieser Volksentscheid weniger Wert sein, als ein Volksentschied über die Verfassung? Wie sollte das Bundesgericht im Rahmen einer Verfassungsgerichtsbarkeit hier entscheiden? Soll es Frauen auch erst ab 65 eine Rente zusprechen oder soll es Männern die Rente schon ab 64 gewähren? Soll es den entsprechenden Teil des Bundesgesetzes als verfassungswidrig erklären und es dem Gesetzgeber überlassen eine verfassungskonforme Lösung zu finden und diese zu gegebener Zeit erneut prüfen um allenfalls erneut als verfassungswidrig zu beurteilen?

Auch in anderen Bereichen würde eine Verfassungsgerichtsbarkeit zu untragbaren Folgen führen. Am 20. Februar 1994 nahmen Volk und Stände die Volksinitiative zum Schutz des Alpengebietes an. Sie verlangt, dass der Gütertransitverkehr über die Schiene abgewickelt wird (Art. 84 BV). Die Übergangsbestimmung zu dieser Verfassungsbestimmung besagt, dass die Verlagerung des Gütertransitverkehrs auf die Schiene zehn Jahre nach der Annahme der Initiative abgeschlossen sein muss (Art. 196 Ziff. 1 BV), also 2004. Das Bundesgesetz über die Verlagerung des alpenquerenden Güterschwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene (Güterverkehrsverlagerungsgesetz, GVVG) setzt dieses Ziel jedoch „auf spätestens zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels“ fest (Art. 3 GVVG), was ebenso klar verfassungswidrig ist, wie das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse. Das Bundesgericht müsste hier im Rahmen einer verfassungsgerichtlichen Prüfung anordnen, dass der alpenquerende Güterschwerverkehr umgehend auf die Schiene zu verlagern sei, obwohl die entsprechende Infrastruktur nicht vorhanden ist.

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit reine Richterwillkür an die Stelle des demokratischen Gesetzgebers setzt. So hatte der amerikanische Supreme Court sowie das deutsche Bundesverfassungsgericht darüber zu befinden, ob ein Gesetz welches den Schwangerschaftsabbruch regelt, verfassungswidrig sei oder nicht. Da die Verfassungen der Länder immer Bestimmungen enthalten, die sich widersprechen, ist der Ausgang solcher Verfahren nicht absehbar. Während das höchste amerikanische Gericht den Schwangerschaftsabbruch unter Berufung auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit zulässt, kommen die deutschen Richter zum Schluss, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht verfassungskonform sei, da er eine Verletzung der staatlichen Pflicht zum Schutze des Lebens darstelle. Diese willkürliche Rechtsprechung kann nur dadurch vermieden werden, indem die Konkretisierung der Verfassung Aufgabe der Legislative bleibt.

Bindend im Sinne von Art. 190 BV ist neben den Bundesgesetzen auch das Völkerrecht. Im Völkerrecht wird zwischen zwingendem Völkerrecht und nicht zwingendem Völkerrecht unterschieden. Das zwingende Völkerrecht, das sog. ius cogens, wird in Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (VRK) wie folgt definiert: „Eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts ist eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ Das zwingende Völkerrecht umfasst namentlich das Verbot von Folter, Genozid und Sklaverei sowie den Grundsatz des Non-Refoulement (keine Ausschaffung in ein Land, in dem für die zurückgeschobene Person Folter oder Tötung droht). Das nicht zwingende Völkerrecht umfasst für die Schweiz alle für sie verbindlichen völkerrechtlichen Normen (Verträge, Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze, allfällige Rechtsetzungsakte internationaler Organisationen); nicht entscheidend ist, ob der jeweilige völkerrechtliche Vertrag innerstaatlich der parlamentarischen Genehmigung bedurfte, dem Referendum unterlag oder vom Bundesrat selbständig abgeschlossen wurde. Ob auch völkerrechtliche Verträge, die von den Kantonen abgeschlossen wurden unter die Immunisierung von Art. 190 BV fallen, ist umstritten.

Dass Art. 190 BV Bundesgesetze und Völkerrecht (also beide) als massgebend bezeichnet, ist in der Tat problematisch, denn nicht selten widersprechen sich Bundesgesetze und völkerrechtliche Bestimmungen materiell. Bundesgesetze und Völkerrecht sind auszulegen; eine Aussage über die Auslegungsmethode ist der Bundesverfassung jedoch nicht zu entnehmen. Die Praxis des Bundesgerichts geht dahin, Bundesgesetze verfassungs- und völkerrechtskonform auszulegen. Unzulässig ist jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Massgeblichkeit im Rahmen der Auslegung eine Gesetzeskorrektur vorzunehmen. Das Bundesgericht hat die Fälle, in denen eine Bestimmung in einem Bundesgesetz einer Bestimmung des Völkerrechts widerspricht, unterschiedlich gelöst. Das Bundesgericht betont regelmässig den Vorrang des Völkerrechts; so beispielsweise in BGE 122 II 234, S. 239 („Die Eidgenossenschaft kann sich der völkerrechtlichen Verpflichtung nicht unter Berufung auf inländisches Recht entziehen; das Völkerrecht hat grundsätzlich Vorrang“) oder in BGE 125 II 417, S. 425 („…Daraus ergibt sich, dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell vorgeht“). Begründet wird dies mit dem Verweis auf Art. 5 Abs. 4 BV („Bund und Kantone beachten das Völkerrecht“); die demokratische Legitimation von Völkerrecht ist jedoch in der Regel tiefer als jene von Bundesgesetzen, die den Gesetzgebungsprozess durchlaufen. Die Rechtspraxis gibt in jenen Fällen dem Völkerrecht nicht den Vorrang, in denen der Bundesgesetzgeber bewusst beim Erlass einer Bestimmung einen Verstoss gegen das Völkerrecht in Kauf genommen hat (Schubert-Praxis; BGE 99 Ib 39 ff.). Bewusst gegen das Völkerrecht verstösst der Bundesgesetzgeber dann, wenn er anlässlich der Beratungen des Bundesgesetzes den Verstoss gegen das Völkerrecht ausdrücklich thematisiert. Es ist jedoch absehbar, dass das Bundesgericht die Schubert-Praxis aufgeben wird. Die Urteile, in denen das Bundesgericht die Schubert-Praxis bestätigte, liegen schon einige Jahre zurück. Im erwähnten BGE 125 II 417 hat das Bundesgericht diese Frage offen gelassen. In kommenden Entscheiden wird das Bundesgericht die Schubert-Praxis wohl ändern und sich auf Art. 26 und 27 VRK berufen (pacta sunt servanda; ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen [Art. 26]; eine Vertragspartei kann sich nicht auf innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen [Art. 27]).

Speziell einzugehen ist auf das Verhältnis der Bundesgesetze zur europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die EMRK trat für die Schweiz am 28. November 1974 in Kraft. Sie wurde lediglich aufgrund eines einfachen Bundesbeschlusses ratifiziert und unterlag somit nicht dem Referendum. Das Volk hatte somit kein Mitspracherecht. Als völkerrechtlicher Vertrag ist die EMRK jedoch im Sinne von Art. 190 BV massgebend. Sie ist in der Anwendung dem gesamten älteren Bundesgesetzesrecht vorrangig. Da die Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) jedoch stets umfassender und ausgeweitet wird, werden auch später erlassene Bundesgesetze plötzlich konventionswidrig. Gegen letztinstanzlich ergangene Urteile kann beim EGMR in Strassburg geklagt und eine Verletzung der EMRK gerügt werden. Wird die Schweiz vom EGMR verurteilt, stellt dies ein Revisionsgrund dar, weshalb das Bundesgericht den Fall neu beurteilen muss. Weil die Grundrechtsgarantien der Bundesverfassung mit denen der EMRK in weiten Bereichen deckungsgleich sind, haben wir in Fällen, in denen die EMRK Anwendung findet, faktisch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, obwohl der Gesetzgeber eine solche bewusst nicht wollte, weshalb er Art. 190 BV entsprechend formuliert hat. Dadurch wurde Art. 190 BV ausgehöhlt und gilt bei den Grundrechten nur noch bezüglich der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheit, da diese für die Schweiz nicht durch die EMRK geregelt werden. Dies ist eine unhaltbare Situation und ein Handeln ist dringend angezeigt.

Eine Streichung von Art. 190 BV ist als Lösung jedoch abzulehnen. Wie eingangs erwähnt, ist eine Bindung der rechtsanwendenden Behörden an die Bundesgesetze durchaus zu befürworten. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Parlament und das Volk Bundesgesetze einführen können, die eine Gesamtbetrachtung von politischen und sozialen Faktoren berücksichtigen können. Eine Streichung dieser Möglichkeit würde dazu führen, dass ein Richtergremium die Schweiz politisch regiert. Wenn Art. 190 BV abgeändert werden soll, dann insofern, als das Völkerrecht in dieser Bestimmung zu streichen ist. Dadurch könnte die Situation vermieden werden, dass Bundesgesetze und völkerrechtliche Bestimmungen als massgeblich betrachtet sich widersprechen; ergänzend wäre eine Anpassung von Art. 5 Abs. 4 BV notwendig.

Am Bundesgericht entscheiden die Richter bei Einstimmigkeit in Dreier- sonst in Fünferbesetzung. Die Mehrheit dieses Gremiums, also drei Richter hätten somit das Sagen und mehr Gewicht als National-, Ständerat und das Schweizer Volk. Als Vergleich sei auf die kantonalen Gesetze verwiesen. Hier besteht eine Verfassungsgerichtsbarkeit, was die Bevölkerung des Kantons Obwalden beim Erlass ihres Steuergesetzes im Jahre 2005 erfahren musste. In einer vielbeachteten Abstimmung nahm die Obwaldner Bevölkerung am 11. Dezember 2005 das kantonale Steuergesetz mit 86 Prozent Ja-Stimmen an. Das Bundesgericht hatte in der Folge über das Steuergesetz zu urteilen und erachtete dieses als verfassungswidrig. Der Kanton Obwalden war gezwungen, das Steuergesetz dem Richterspruch entsprechend anzupassen. Das Gericht hatte somit mehr Gewicht, als die Parlamentarier sowie die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger des Kantons Obwalden. Eine Streichung der Massgeblichkeit der Bundesgesetze in Art. 190 BV hätte die entsprechende Wirkung auf Bundesebene. Soll wirklich auch auf Bundesebene das letzte Wort zur Judikative verlagert werden? Dass kantonales Recht einer verfassungsmässigen Überprüfung standhalten muss, rechtfertigt sich im Hinblick auf eine Einheitlichkeit des Bundesrechts; dies entfällt auf Bundesstufe, da der Bundesgesetzgeber die Bundesverfassung dort verbindlich in Bundesgesetzen konkretisiert.

Das schweizerische Rechtssystem geht grundsätzlich vom sog. „diffusen System“ aus, d.h. jedes Gericht kann einer Norm wegen Unvereinbarkeit mit übergeordnetem Recht die Anwendung versagen. Eine Folge bei einem Wegfall der Massgeblichkeit von Bundesgesetzen wäre somit, dass jede angerufene Gerichtsinstanz die Verfassungsmässigkeit von Bestimmungen in Bundesgesetzen überprüfen könnte. Dies würde dazu führen, dass die Gerichtsverfahren komplizierter, teurer und noch länger dauern würden, denn zusätzlich könnte gerügt werden, eine anzuwendende bundesrechtliche Gesetzesbestimmung sei verfassungswidrig. Wenn die Gerichte diese Fragen nicht schon von Amtes wegen prüfen müssten, würden die Anwälte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Eine zusätzliche Belastung der Gerichte ist absehbar. Kommt das Bundesgericht als letzte Instanz schliesslich zum Schluss, dass eine bundesgesetzliche Bestimmung verfassungswidrig ist, wird es nicht eine verfassungskonforme Regelung ins Bundesgesetz schreiben können, sondern die Sache an die Vorinstanz zurückweisen und das vorinstanzliche Urteil lediglich kassieren. Die Vorinstanz wird den Rechtsstreit jedoch nicht beurteilen können, bevor der Gesetzgeber das Bundesgesetz verfassungskonform verabschiedet hat. Bis diese neue Fassung jedoch das parlamentarische Verfahren durchlaufen hat und allenfalls noch eine Volksabstimmung durchgeführt worden ist, vergehen Jahre und der entsprechende Rechtsstreit und alle die auch die Anwendung dieser Bestimmung betreffen, stehen still. Sollten die eidgenössischen Räte bzw. das Volk die Gesetzesänderung jedoch ablehnen, entstünde eine Pattsituation und eine für einen Rechtsstaat unmögliche Lage. Mit dem Wegfall der Massgeblichkeit der Bundesgesetze werden die Fälle massiv zunehmen, in denen Bundesgesetze oder Teile davon als verfassungswidrig taxiert werden, denn das Bundesgericht hat sich diesbezüglich bisher sehr zurückhaltend gezeigt und nur vereinzelt auf die Verfassungswidrigkeit hingewiesen, weil es sich an Art. 190 BV halten musste. Diese Zurückhaltung würde mit der vorgeschlagenen Streichung von Art. 190 BV wegfallen und auch die Parteien werden massiv auf die neue Rügemöglichkeit setzen. Es stellt sich auch die Frage, was die Folge ist, wenn ein erst- oder zweitinstanzliches Gericht eine Verfassungswidrigkeit feststellt und keine Partei den Rechtsstreit weiterzieht. Muss der Gesetzgeber in diesen Fall bereits aktiv werden, obwohl das Bundesgericht nicht darüber befunden hat und die Sachlage womöglich anders beurteilt? Der Gesetzgeber müsste bei einer Einführung der Verfassungsgerichts-barkeit somit auch das neue Prozessrecht bereits wieder überdenken und allenfalls eine dem europäischen Recht analoge Lösung der „vorfrageweise Überprüfung“ einführen. Die dadurch hervorgerufenen Verzögerungen bei Rechtsprozessen innerhalb der europäischen Union sind bekannt.

 
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