Editorial

Familienartikel: Unhaltbare Widersprüche

Die Befürworter des neuen Verfassungsartikels über die Familienpolitik scheuen eine Diskussion über die möglichen Kostenfolgen der Vorlage wie der Teufel das Weihwasser. Aus gutem Grund: Die…

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)

Die Befürworter des neuen Verfassungsartikels über die Familienpolitik scheuen eine Diskussion über die möglichen Kostenfolgen der Vorlage wie der Teufel das Weihwasser. Aus gutem Grund: Die finanziellen Konsequenzen eines Eingriffs des Bundes in die Kinderbetreuung könnten immense Grössenordnungen annehmen, und die Widersprüche der Befürworter über ihre Ausbauabsichten sind fast ebenso gross.

Bei der neuen Verfassungsbestimmung geht es um den Ausbau eines staatlichen Angebots. Das lässt sich nicht bestreiten. Neu ist nämlich nicht etwa die Berücksichtigung der Familie in der Bundesverfassung, wie dies die Befürworter glaubhaft machen wollen. Die Familie hatte bereits bisher ihren verfassungsmässigen Platz (Art. 116 BV). Der entsprechende Absatz, der die Berücksichtigung und den Schutz der Familie festschreibt, wurde einfach in den neuen Artikel transferiert. Neu sind hingegen die beiden Absätze, welche eine Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sowie ein bedarfsgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen definieren. „Fördern" und „sorgen für" sind Begriffe, welche unter anderem bedeuten, dass zusätzliche finanzielle Mittel in den entsprechenden Bereich fliessen sollen. Dass die Befürworter des Familienartikels teilweise nicht einmal zu diesem Umstand stehen wollen, ist peinlich. Ginge es nicht um zusätzliche Strukturen und Angebote, bräuchte es keinen neuen Artikel in der Bundesverfassung.

„Bedarfsgerechtes" Angebot
Nun beklagen viele Verfechter des neuen Verfassungsartikels gleichzeitig eine Lücke im Angebot an familien- und schulergänzenden Strukturen. Die Aussagen betreffend Vorschulalter (0 bis 4 Jahre) reichen von 50‘000 bis 120‘000 Betreuungsplätzen. Der zuständige Bundesrat wagt es jedoch nicht einmal, diesen Bedarf abzuschätzen, obwohl der neue Verfassungsartikel den Begriff „bedarfsgerecht" als zentrales Element enthält. Das Parlament hatte sich in seinen Beratungen im vergangenen Jahr übrigens auf eine Studie aus dem Jahr 2005 (!) gestützt, welche vorrechnet, dass im Vorschulalter für mindestens 120‘000 Kinder Betreuungsangebote fehlen. Dies entspricht 50‘000 Betreuungsplätzen. Die Rechnung ist relativ einfach: 50‘000 Betreuungsplätze entsprechen gemäss den vom Bundesamt für Sozialversicherung verwendeten Vollkostenzahlen Gesamtkosten von gegen 1,5 Milliarden Franken pro Jahr. 120’000 Betreuungsplätze, eine Zahl, welche ebenfalls von den Befürwortern stammt, entsprechen über 3,5 Milliarden Franken. Nun beziehen sich diese Kosten lediglich auf Kinder zwischen 0 und 4 Jahren. Hinzu kommen die Strukturen für die Kinder im Schulalter (z.B. Tagesschulen), welche auf einer Basis von dreimal mehr Kindern als im Vorschulalter zu veranschlagen sind. Hier kann man zwar von tieferen Kosten pro Platz ausgehen. Eine einfache Rechnung fördert aber auch hier Milliardenbeträge zu Tage, selbst dann, wenn die Eltern einen relevanten Teil der Betreuungskosten selber bezahlen.

Bezüglich der schulergänzenden Strukturen wird eingewendet, dass diese in mehreren Kantonen bereits durch HarmoS verlangt würden. Das macht die Sache faktisch nicht günstiger und zeigt einmal mehr die eklatanten Widersprüche der Befürworter auf. Weshalb braucht es denn überhaupt einen neuen Verfassungsartikel, wenn die gleichen Ziele bereits mit der bestehenden Verfassungsbestimmung verfolgt werden können?

Sozialausbau vorprogrammiert
Für gewisse Förderungsmassnahmen bräuchte es dann wohl in der Tat eine neue Verfassungsgrundlage. So fordert die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen EKFF, eine der Hauptpromotorinnen des neuen Familienartikels, einen Elternurlaub, der je nach Modell zwischen 1,1 und 1,6 Milliarden Franken pro Jahr kosten würde. Am vergangenen Wochenende wurde über die Medien von linker Seite zudem eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs auf ein halbes Jahr ins Spiel gebracht. Kostenpunkt: über 500 Millionen Franken mehr als heute. Es ist also völlig klar, dass ein neuer Förderungsartikel in der Bundesverfassung zu einem Sozialausbau führt. Dass sich der Bundesrat vor diesem Hintergrund weigert, über mögliche Kosten zu sprechen, ist unehrlich und irreführend. Man verweist auf den Umstand, dass ja der Gesetzgeber konkrete Umsetzungen erst noch beschliessen müsste und die Kosten dann sowieso mehrheitlich bei den Kantonen und Gemeinden anfallen. Der Gesetzgeber ist das gleiche Parlament, das mit erdrückender Mehrheit den Verfassungsartikel durchgewinkt hat. Wenn man den Tiger aus dem Käfig lässt, kann man ja gerne hoffen, er sei unterdessen zum Vegetarier geworden. Die gewundenen Ausflüchte, weshalb man sich jetzt nicht zu den konkreten Folgen des neuen Familienartikels äussern könne, sind lächerlich. Träfe der behördliche „Blindflug" zudem effektiv zu, wäre dies umso bedenklicher und widerspräche jeglichen Ansprüchen an eine seriöse rechtssetzende Arbeit von Bundesrat und Parlament.

Nicht im Interesse der Kantone
Widersprüchlich sind auch die Aussagen der Befürworter zu den Folgen der neuen Verfassungsbestimmung für die Kantone. Auch hier ist es nicht einsichtig, weshalb es denn ausdrücklich ein Interventionsrecht des Bundes braucht, wenn sich an den Kompetenzen angeblich nichts ändern soll. Und auch hier ist die Gleichung einfach: Entweder macht der Bund Vorgaben für einen Ausbau des Angebots und zahlt dann auch dafür. In diesem Fall entstehen zusätzliche Kosten auf Bundesebene, die der Steuerzahler zu berappen hat. Oder die Kantone und Gemeinden füllen die vom Bundesrat und den Befürwortern des Familienartikels monierte Bedarfslücke ohne finanzielle Unterstützung des Bundes. Auch in diesem Fall zahlt letztlich der Steuerzahler die Zeche. Dieses Szenario ist deshalb kaum im Interesse von Kantonen und Gemeinden. So beteiligt sich der Bund heute beispielsweise im Kanton Waadt, einem Kanton, der bereits einen entsprechenden Förderartikel in die Kantonsverfassung aufgenommen hat, gerade einmal mit 1,4% an den Gesamtkosten für die Kinderbetreuung. Wird der Verfassungsartikel auf Bundesebene angenommen, nimmt plötzlich der Bund Platz am Steuer und redet betreffend Angebot mit.

Vor diesem Hintergrund gibt es schlicht keinen Grund, weshalb die bisherige Kompetenzordnung, bei der Private, Gemeinden und Kantone für familien- und schulergänzende Betreuungsangebote sorgen, über den Haufen geworfen werden soll. Dies führt ohne Zweifel zu Mehrkosten, einem Zurückdrängen privater Initiative und zu Lösungen, die eben gerade nicht bedarfsgerecht sind, weil sie mit zentralistischen Vorgaben sehr unterschiedliche Ausgangslagen, z.B. zwischen Stadt und Land, über einen Leisten schlagen und wegen Umverteilungseffekten und Subventionen eine künstliche Nachfrage schaffen.

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)
 
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