Editorial

Kurzes politisches Gedächtnis oder gespielte Betroffenheit?

Das politische Gedächtnis ist kurz. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, doch überrascht es immer wieder, wie konsequent die Politik früher gefällte Entscheide vergisst und verdrängt. Zwei…

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)

Das politische Gedächtnis ist kurz. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, doch überrascht es immer wieder, wie konsequent die Politik früher gefällte Entscheide vergisst und verdrängt. Zwei exemplarische Beispiele aus der vergangenen Woche: Der Aufschrei des Gewerbes über die rabiate Inkasso-Praxis der Billag gegenüber verschiedenen KMU ist unüberhörbar. Was der Öffentlichkeit als überraschende Neuerung verkauft wird, ist von der Politik über Jahre bewusst in diese Richtung gesteuert worden. Mit dem Radio- und Fernsehgesetz und seiner Verordnung wurde von der Politik festgeschrieben, was nun praktiziert wird. Möglichkeiten, dies zu korrigieren, hält das Parlament selbst in der Hand.
Auch die Überraschung von Bundesräten und Parlamentariern über die finanzielle Lage der Armee ist letztlich gespielt. Die Halbierung der Armee-Ausgaben um die Hälfte, gemessen am BIP, ist nicht zufällig, quasi über Nacht, entstanden, sondern war der bewusste Wille einer Mehrheit von Bundesrat und Parlament. Die einen wollten damit die Armee schwächen, die anderen den Weg für die Abschaffung der Miliz zugunsten eines Berufsheeres ebnen, wieder andere hatten das Ziel, die Schweiz in ein internationales Militärbündnis zu führen.

Fast 3,5 Milliarden Franken wurden in den letzten zehn Jahren insgesamt im Bereich Verteidigung eingespart (Voranschläge, Entlastungsprogramme, Kreditkürzungen usw.). Dies, obwohl der Armee in der gleichen Zeit, vom gleichen Bundesrat und vom gleichen Parlament zahlreiche Zusatzaufgaben aufgebürdet wurden, von der Friedensförderung, über die Botschaftsbewachung bis zum Einsatz am WEF und an verschiedenen Konferenzen. Der Anteil der Verteidigungsausgaben, gemessen am Bruttoinlandprodukt, hat sich in den letzten 20 Jahren von 1,8 auf 0,9 Prozent halbiert. Dies war ein bewusster Entscheid der Politik. Wenn sich Sicherheitspolitiker nun in der Öffentlichkeit erstaunt die Augen reiben, dass Bundesrat Ueli Maurer laut über eine Verzichtsplanung nachdenkt, dürfte das in vielen Fällen eine gespielte Betroffenheit sein. Nicht wenige Politiker verfolgen in der Sicherheitspolitik ihre eigene Agenda, sei dies die Schwächung der Armee, sei dies die Abschaffung der Miliz und die Bildung eines Berufsheeres, sei dies der Anschluss der Schweiz an internationale Militärbündnisse. Man stellt sich zudem die Frage, was die Bundesräte in den letzten zehn Jahren jeweils gemacht haben, wenn das Thema Sicherheitspolitik auf der Traktandenliste ihrer wöchentlichen Sitzungen auftauchte. Nicht mein Thema, durchwinken, der Verteidigungsminister wird schon wissen, was er tut. Diese Ignoranz rächt sich nun.

Alle Trümpfe in der Hand
Die gleichen Fragen möchte man jenen Gewerbepolitikern stellen, die sich nun über das Vorgehen der Billag in Sachen Gebühreninkasso bei kleineren und mittleren Unternehmen aufregen. Sie sollten die von ihnen vor noch nicht allzu langer Zeit verabschiedeten Gesetzestexte und die vom Bundesrat beschlossenen Verordnungen zur Hand nehmen. Was jetzt umgesetzt wird, wurde mit einer satten Mehrheit von Parlament und Bundesrat beschlossen. Dass man sich damals der Wirkung der eigenen Beschlüsse offensichtlich zu wenig bewusst war, macht die Sache nicht besser. Und dass die Billag ein unnötiger, bürokratischer Molloch ist, dürfte nach einer längeren öffentlichen Debatte eigentlich auch längst allen bekannt sein. Das Parlament hat es übrigens selbst in der Hand, Korrekturen am Gebühreninkasso vorzunehmen. Nationalrätin Natalie Rickli forderte bereits 2008 in einer Parlamentarischen Initiative den Verzicht von Radio- und Fernsehgebühren für Internet und Handy. In einer zweiten Parlamentarischen Initiative verlangt Rickli, die Kompetenz für die Festsetzung von Radio- und Fernsehgebühren dem Parlament zu übertragen. Spätestens bei der Abstimmung über diesen Vorstoss im Parlament dürfte es auch die Wählerschaft der Gewerbepolitiker interessieren, welchen Knopf ihre Volksvertreter drücken.

Martin Baltisser
Martin Baltisser
Bern (BE)
 
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