Schengen – ein weiterer Schritt zum EU-Beitritt

Christoph Mörgeli
Christoph Mörgeli
Nationalrat Stäfa (ZH)

„Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden.“ So lautet Artikel 2 des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985. Es gibt keinen einzigen Schengen-Mitgliedstaat, der diesen Satz nicht als „Kernsatz“ anerkennen würde. Praktisch alle restlichen Artikel des Abkommens betreffen so genannte „Ausgleichsmassnahmen“, die den Verlust an Sicherheit durch offene Grenzen irgendwie auffangen sollen. Es ist mir kein einziger ausländischer Politiker oder Staatsrechtler bekannt, der nicht zugibt, dass das Hauptziel von Schengen der Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Vertragsstaaten ist. Ein EU-Politologe hält begeistert und unmissverständlich fest: „Der Name Schengen steht heute europaweit für ein Europa ohne Grenzen.“ Und weiter: „Eine wichtige Auswirkung der Schengener Abkommen liegt sicher in ihrer europapolitischen Bedeutung.“ Und so ist es auch: Die Europäische Union will mit Schengen zeigen, dass sie eine grosse, harmonische Familie ist. Ich wiederhole den bei allen Unterzeichnerstaaten anerkannten zentralen Satz des Schengen-Vertrags: „Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden.“ Nun konnte dieses Ziel nicht innerhalb des rechtlichen Rahmens der EU erreicht werden, denn ein EU-Mitglied wie Grossbritannien hätte sich entrüstet gegen den damit verbundenen Sicherheitsverlust gewehrt und ist Schengen denn auch bis heute nicht beigetreten. Nein, Schengen ist bis heute kein EU-Abkommen, sondern beruht einzig auf einem zwischenstaatlichen Abkommen.

Schengen ist kein Sicherheitsprojekt

Nun gibt es allerdings ein kleines Alpenland inmitten Europas, dessen Politiker und Beamte allein auf weiter Flur so tun, als handle es sich beim Schengen-Vertrag in erster Linie um ein Sicherheitsprojekt: „Schengen bringt mehr Sicherheit“, behaupten hierzulande Bundesräte und Bundesangestellte unentwegt – und die Medien plappern es ihnen begeistert nach. Welch unglaubliche Umkehr zur Realität, in der es in der Hauptsache um die Aufhebung der Grenzen geht und man sich nachher etwas ratlos überlegt, wie man die dadurch entstehenden Sicherheitslücken einigermassen stopfen könnte. Schengen bedeutet freie Fahrt für alle, die in den Schengenraum eingedrungen sind – leider auch für Kriminelle, Waffenschieber, organisierte Verbrecher, Illegale, Schlepper und Asylmissbraucher. Den Höhepunkt der marktschreierischen Verkaufsbemühungen von Schengen habe ich heute vernommen: Unsere Landesgrenzen seien ein Sicherheitsrisiko, weil sie ein Hindernis für die Ermittlungs- und Strafbehörden darstellten.

Selbstverständlich war vorauszusehen, dass die Schengen-Freunde bei uns bürgerlichen Skeptikern in geradezu absurder Umkehr der Tatsachen versuchen würden, mit dem Sicherheitsargument zu hantieren. Die damalige SP-Nationalrätin Regine Aeppli hat den Braten schon vor zweieinhalb Jahren gerochen und geschrieben, „der Bundesrat stelle einseitig die Sicherheitsaspekte in den Vordergrund, um sich bei den Bürgerlichen beliebt zu machen“. (Die Wochenzeitung, 31.1.2002)

Immerhin gibt es in unserem Land auch noch ehrliche Praktiker, die Klartext über Schengen sprechen. So sagte Thomas Hug, der erste Staatsanwalt des Grenzkantons Basel-Stadt gegenüber der „Weltwoche“: „Sie müssen sehen, dass das Übereinkommen nicht geschlossen wurde, um für mehr Sicherheit zu sorgen, sondern um die Grenzen zwischen den Staaten der Europäischen Union zu öffnen. Die Abschaffung der Grenzkontrollen ist der Sicherheit aber zwangsläufig abträglich. Deshalb mussten die Schengen-Staaten ersatzweise flankierende Massnahmen treffen, um die Sicherheit wieder zu erhöhen.“ (Die Weltwoche, 15.4.2004)

Dublin: Herumschieben von Asylbewerbern

Auch das viel gerühmte Abkommen von Dublin betreffend Asylbewerber sollte mit grösster Skepsis beurteilt werden. Zum Wesen der Europäische Union gehört es leider, dass die ihr angehörenden Nationalstaaten sämtliche Probleme, die sie nicht lösen können, einfach auf die höhere supranationale Ebene abschieben, wo sie erst recht nicht gelöst werden. Der grosse europäische Denker Ralph Dahrendorf hält fest, dass die Reformer der linken Mitte (er nennt sie Neosozialdemokraten) Europa als Utopie entdeckt hatten, ohne genau zu wissen, wo dieses Europa liegt und was es bedeuten solle. Klar sei dieses Internationalisten, Zentralisten und Wettbewerbsverhinderern nur die täuschende Devise: „Im eigenen Land werden wir mit den Problemen nicht fertig, darum sollten wir sie auf europäischer Ebene anpacken.“ (Der Wiederbeginn der Geschichte, 2004, S. 195) Dies betrifft insbesondere die Sicherheit, den Asylmissbrauch und die Kriminalität. Die hochgejubelten grenzüberschreitenden Informationssysteme sind eben nur so gut, wie die Summe der Systeme der einzelnen Staaten, deren Qualität durchaus unterschiedlich ist.

Was auf den ersten Blick gut tönt, – dass Asylbewerber nur noch in einem Land ein Gesuch stellen können und eine Ablehnung überall Gültigkeit hat -, erweist sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Wenn sie ein gemeinsames Gesetz über verschiedene Länder mit ganz unterschiedlicher Kultur und Rechtstradition stülpen, zeigt sich der Kulturunterschied eben darin, wie die einzelnen Länder dieses Gesetz auslegen. Erstaunlicherweise nehmen die Staaten Südeuropas wie Griechenland, Italien und Spanien viel weniger Asylsuchende zurück als die Staaten Nordeuropas, die möglicherweise mit der Identifizierung und Registrierung etwas exakter verfahren. Dabei erscheint es doch eher als unwahrscheinlich, dass die übers Mittelmeer und auf der Balkanroute zuströmenden Menschen als erstes nordeuropäischen Boden betreten und das südeuropäische Territorium gewissermassen überhüpfen. Jedenfalls betreiben die Staaten mit Dublin letztlich ein Nullsummenspiel, indem sie die Asylbewerber einfach herum schieben. Und ich kann Ihnen heute schon garantieren, dass die gründlichen und pflichtbewussten Schweizer viel mehr Asylsuchende zurücknehmen müssten, als wir abschieben könnten.

EU-Beitritt als Ziel

Warum aber verkaufen Bundesrat und Verwaltung Schengen und Dublin seit Jahren wider besseres Wissen als Sicherheitsprojekt? Warum hat der Bundesrat trotz schwerster Nachteile für die innere Sicherheit unseres Landes von sich aus im Rahmen der bilateralen Verträge in Brüssel förmlich um Aufnahme in den Schengen-Raum gebettelt? Warum sagt heute der Vertreter des Integrationsbüros, Schengen bringe keinen Souveränitätsverlust.“ Dasselbe Integrationsbüro, das ja unsere Regierung berät, liess den Bundesrat noch 1999 unwidersprochen verkünden, Schengen mache „Souveränitätsübetragungen an supranationale Instanzen unerlässlich“? (Botschaft des Bundesrates zu den Bilateralen Verträgen I, 23.6.1999). Warum ist Bundesbern nicht in der Lage, wenigstens über ein paar Jahre lang einigermassen berechenbar und diszipliniert zu denken? Der Grund ist klar: Mit Schengen und den bilateralen Verträgen will der Bundesrat den EU-Beitritt weiter vorantreiben.

Und der Grund wird noch klarer, wenn Sie wissen, welches Duo dem Integrationsbüro politisch vorsteht. Da ist erstens Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss, der einen Tag nach Annahme der Bilateralen Verträge I verkündet hat, nun sei der EU-Beitritt der Schweiz ein in Arbeit befindliches Projekt. Zum zweiten untersteht das Integrationsbüro der Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, die letztes Jahr vor der Presse wörtlich verkündete, die bilateralen Verträge seien dazu, „den Boden zu bereiten“ für einen raschen EU-Beitritt. (Pressekonferenz, 24.4.2003)

So deutliche Aussagen sind allerdings eine Ausnahme, meistens spricht der Bundesrat europapolitisch viel schlauer und wolkiger, ganz im Sinne des früheren FDP-Präsidenten Franz Steinegger, der 1998 von der „Sonntagszeitung“ gefragt wurde: „Sie bleiben bei der Salamitaktik: Rädchen um Rädchen, Schritt für Schritt in die EU?“ Steineggers Antwort lautete: „Ganz klar. In der direkten Demokratie sind konkrete Schritte der einzige Weg, um weiter zu kommen.“ (Sonntags-Zeitung, 25.10.1998). Schengen ist nun also eine weitere, ziemlich dicke Scheibe dieses Salamis. Man entschuldige mich, wenn ich diese Salamitaktik nicht ganz so charmant finde wie der Chef des Integrationsbüros.

Weil die ursprünglich eher misstrauische Linke gemerkt hat, dass es mit Schengen in grossen Schritten Richtung EU-Beitritt geht, hat man die einstigen Kritiker kalt- oder doch wenigstens ruhig gestellt. Der Zürcher SP-Justizdirektor Notter, der einst mit scharfen Worten gegen Schengen zu Felde zog, schwärmt heute nur noch vom EU-Beitritt. Der Basler SP-Nationalrat Remo Gysin hat der Aussenpolitischen Kommission vor noch nicht allzu langer Zeit beantragt, mit der EU keinesfalls über eine Schengen-Kooperation zu verhandeln, denn diese bringe „nichts für die Bekämpfung von Terrorismus oder organisierter Kriminalität“. „Es darf doch nicht sein“ – so hat sich Gysin in Sachen Schengen gegenüber der „Wochenzeitung“ geärgert -, „dass die SVP die einzige Opposition ist.“ (Die Wochenzeitung, 31.1.2002) Haben Sie seither in dieser Sache wieder etwas von Herrn Gysin gehört? Nein, denn in der SP hat sich Regine Aeppli durchgesetzt, die ihrer Fraktion bereits im August 2000 begeistert über die „Schengen-Idee“ geschrieben hat, deren Kern sei der „Öffnungsgedanke“: Die Aufhebung der Kontrolle an der Grenze „zu unseren Nachbarländern wäre ein starker symbolischer Akt“.

Und weiter im Originaltext Aepplis: Nach der verlorenen EU-Abstimmung kämen bilaterale Verhandlungen über Schengen gerade recht, um die Debatte über das Verhältnis Schweiz-EU „zu vertiefen“. Und die Grünen? Ärgerte sich Cécile Bühlmann unlängst in einem parlamentarischen Vorstoss noch grün und blau über die Vorstellung, dass nach einem Schengen-Beitritt vor allem braune und schwarze Mitmenschen kontrolliert würden, können Sie heute im GREENFO, dem offiziellen Organ der Grünen Partei, die fröhlichen Worte lesen: „Diese Kröte müssen wir schlucken.“ Warum? „Weil ein EU-Beitritt ohne Schengen nicht zu haben ist“ und „weil eine soziale und grüne Schweiz nur im Rahmen der EU zu haben ist.“

SVP muss Wahlversprechen halten

Solche geistigen Bocksprünge braucht die SVP nicht anzustellen. Unsere Partei kennt den Inhalt des seit 1985 bestehenden Schengen-Vertrags seit langem. Sie kennt insbesondere den Kernsatz „Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden“. Darum hat die Delegiertenversammlung der SVP Schweiz bereits am 18. August 2001 im appenzellischen Gais einstimmig eine Übernahme des Schengen-Vertrages durch die Schweiz abgelehnt. Und in der Plattform der SVP Schweiz für die letzten Wahlen steht klipp und klar: „Die SVP lehnt den Beitritt zu Schengen und Dublin ab.“ Wir wissen heute, dass die Erfolge unserer Partei aufs engste mit unserem klaren aussenpolitischen Profil und mit unserer politischen Zuverlässigkeit zusammenhängen.

Leider zeigen die Äusserungen einiger SVP-Volksvertreter, dass sie sich beim Schengen-Dossier nicht mehr an unsere Grundsätze und an unsere Wahlversprechen erinnern wollen. Wenn oben nicht mehr alles stimmt, müssen Sie von unten her eingreifen. Ich bitte Sie, sehr geehrte Damen und Herren Delegierte, daher dringend, uns manchmal etwas wankelmütige Politiker mit einem wuchtigen Nein zu Schengen wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Sonst wird auch unsere SVP zu einer Partei von Opportunisten und Pirouettenkünstlern. Und davon gibt es in der Schweiz beileibe schon mehr als genug.

Christoph Mörgeli
Christoph Mörgeli
Nationalrat Stäfa (ZH)
 
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