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Sozialwerke

Staatsbürgerschaft und Identität

Zuerst ist da eine emotionale Landschaft. Jene Landschaft, auf die sich meine Kinderaugen ganz zu Beginn meines irdischen Lebens legten. Eine magische Landschaft voller Erinnerungen, wo der Schnee…

Oskar Freysinger
Oskar Freysinger
Nationalrat Savièse (VS)

Zuerst ist da eine emotionale Landschaft. Jene Landschaft, auf die sich meine Kinderaugen ganz zu Beginn meines irdischen Lebens legten. Eine magische Landschaft voller Erinnerungen, wo der Schnee weisser, der Wald grüner und das Wasser im Fluss heller erscheinen. Dieser Flecken Erde ist aber auch mit Geschichten durchtränkt. Mit Geschichten, welche die Alten im Kreise der Familie am Kaminfeuer erzählen, wo dieses noch nicht vom Fernseher verdrängt wurde. Und dann gibt es noch die grosse Geschichte, die Geschichte der Völker, die über Kriege, Heldentaten, Siege und Niederlagen berichtet. Der Flecken Erde, den ich als den meinen betrachte, ist voller Spuren einer bewegten Vergangenheit. Die leiblichen Überreste jener Menschen, die ihn vor mir bevölkerten, liegen unter dem Schatten der Erde. Doch ihr Geist lebt weiter in der sichtbaren Welt und hat in den Mauern der Weinberge, in den Kirchen und Hohlwegen mit ihren tausendjährigen Pflastersteinen seine Spuren hinterlassen. Sicher, die Ahnen sind tot, ihre Seelen haben sich in andere Sphären verflüchtigt, aber die Erinnerung an sie lebt hier auf dieser Erde weiter. Die sorgsame Aufteilung des Raumes, die Suonen und Alphütten, eine freigelegte Quelle sind Zeugen ihres Fleisses, ihrer Phantasie, ihrer Lebensweise.

Eines Tages werde ich den Flecken Erde, der mir vererbt wurde, an meine Kindern weiter geben. Es ist eine reiche Vergangenheit, ein einmaliges Erbe, das ich in die Hände jener legen werde, welche die Zukunft bedeuten. Ohne dieses Erbe wären sie von den eigenen Wurzeln abgeschnitten, sie würden in eine Welt abgetrieben, die der Sesshaftigkeit, Tradition und Verwurzelung feindlich gesinnt ist. Ohne eine Vergangenheit, die sie anerkennen, respektieren und lieben, würden sie Opfer einer ewigen Gegenwart, und sie wären ausserstande, aus ihrer Vergangenheit die Zukunft ihrer Nachfahren zu gewährleisten. Sie hinterliessen keine Spuren, in die die künftigen Generationen ihren Fuss setzen könnten, bevor sie sich aufs schwierige Terrain der Erneuerung begeben. Wer das Fundament des ihn tragenden Giganten verweigert, wird unter seinen Füssen zermalmt werden.

Ein Mensch ohne Vergangenheit beraubt sich seiner Zukunft. Vergangenheit steht für Geschichte. Sie formt unsere Identität und bestimmt unsere Werte, unsere Menschlichkeit, unsere Eigenheiten. Ohne sie haben wir keine Identität, sind wir niemand.

Einige werden sagen, das sei alles Illusion, es handle sich bloss um einen Mythos, den wir uns einbilden. Sicher, es handelt sich in der Tat um einen Mythos, weil jeder Mensch, ob er es will oder nicht, seine Wahrnehmung der Welt aus seinen persönlichen Mythen schöpft. Aber dieser Mythos ist alles andere als eine Lüge. Er ist wahrer als die Realität. Er formt sie auf unsichtbare Weise, gibt ihr eine Seele. Lügen streifen bloss die Oberfläche der Welt. Der Mythos jedoch entsteigt ihrer Tiefe und teilt sich unserem Unterbewussten über unsere Gefühle, unseren Durst nach dem Absoluten, unsere kreative Phantasie mit.

Wenn der wissenschaftliche Sozialismus versucht, mit der Aufhebung der Grenzen den „Weltbürger“ zu schaffen, hat er es genau auf das abgesehen: Auf den Geist. Auf die Identität. Auf das einzigartige Band, das den Menschen mit der Erde seiner Vorfahren verbindet. Er bezeichnet den Mythos als Lüge, denn er weiss, dass ein Mythos nicht bekämpft werden kann; die Lüge jedoch lässt sich in irgend etwas anderes umwandeln, selbst in Wahrheit. In eine Wahrheit, die einer totalitären Ideologie als Mantel dient, weil sie losgelöst ist vom Menschlichen, von der Erde und vom Leben. Der Mensch ohne Identität, der internationalistische Genosse, beruft sich auf eine Ideologie, die er für objektiv hält; doch sie stellt nur eine weitere Subjektivität dar, die versucht, die Macht des Abstrakten über das Konkrete zu stülpen, den Diskurs an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen.

Doch was bedeutet dieser Pass mit dem weissen Kreuz, der unsere Identität so treffend definiert? Ein Hindernis? Ein Sesam-öffne-dich? Ein Stück Papier, das eine amtliche Prozedur bestätigt?

Ich sehe darin eher das unersetzbare Merkmal dessen, was wir sind, das Symbol des gemeinsamen Willens, eine Gemeinschaft zu schaffen, die durch bestimmte Werte, Gesetze und Regeln charakterisiert ist. Wer dieses Dokument erhalten möchte, muss einen Initiationsweg durchlaufen. Kein Schweizer ist von Geburt an Schweizer. Er wird es, weil er den Boden seiner Vorfahren beschreitet, einem Umfeld angehört, das ihn umsorgt, weil er durch Geschichte, Traditionen und Familie getragen wird. Der Fremde, der dieser geistigen Gemeinschaft beitreten und den Mythos unseres souveränen und unabhängigen Landes teilen will, ist willkommen. Aber er muss seinen Willen dafür ausdrücklich bekunden, er muss beweisen, dass er würdig ist, ein Mitglied der Gemeinschaft des weissen Kreuzes zu werden. Weshalb sollten wir jemandem die Staatsbürgerschaft zugestehen, der die Werte, die sie darstellt, nicht anerkennt? Weshalb sollten wir die Türe zu unserer Gesellschaft jemandem öffnen, der nur danach trachtet, diese umzustürzen, im Namen von Gesetzen, die nicht die unsrigen sind, von Werten, die wir nicht teilen, von Prinzipien, die mit unserer Verfassung nicht vereinbar sind?

Die Staatsbürgerschaft anbieten, ohne etwas zu fordern, sie unvorsichtig verschenken, gefährdet den sozialen Zusammenhalt. Jemanden einbürgern, der nur Rechte will und sich weigert, die damit verbundenen Pflichten wahrzunehmen, hiesse eine Dissonanz, eine schizophrene Gesellschaft schaffen, es hiesse das Risiko der Aufsplitterung unserer Identität und der Schweizer Zivilgesellschaft eingehen. Dies umso mehr, als diese Gesellschaft nicht auf einer einzigen Kultur und Sprache gründet, sondern auf der Verschiedenartigkeit und dem gegenseitigen Einvernehmen, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden. Dieser gemeinsame Wille stützt sich auf eine Reihe von Werten, die in der Verfassung festgehalten sind. Wenn wir diese Werte in Frage stellen, relativieren oder zurückweisen, gefährden wir das Land, es könnte zerbersten. Deshalb würde ein Beitritt der Schweiz zur EU nicht mehr und nicht weniger als ihre Auflösung bedeuten. Denn der Substanzverlust hinsichtlich direkter Demokratie, Föderalismus und Subsidiarität, den eigentlichen Grundfesten des Bundesstaates, würde ein Abbröckeln jenes Zusammenhalts bewirken, der die Schweiz verfassungsmässig definiert.

Bis heute waren die Schweizer und Schweizerinnen der Herausforderung gewachsen, Patrioten zu sein, ohne nationalistisch zu werden, vorsichtig zu sein, aber nicht verschlossen, offen zu sein, ohne ihre Seele zu verschachern. Sie haben begriffen, dass ihre Staatsbürgerschaft etwas Einzigartiges ist, das ihnen weit reichende politische Rechte zugesteht. Diese Werte werden bestehen bleiben, so lange die Bevölkerung den Mut aufbringt, sie gegen Erpressung, Abwertung oder Verwahrlosung zu verteidigen. Im Jahre 2004 hat das Schweizervolk zur erleichterten Einbürgerung Nein gesagt. Nicht um dem Anderen, dem Mitmenschen aus einer anderen Kultur, die Türe vor der Nase zuzuschlagen, sondern um den Wert einer einzigartigen Staatsbürgerschaft zu bekräftigen. Dem Mitmenschen ein wertloses Papier zugestehen hiesse ihn verachten. Ihm ein wertvolles Papier aushändigen bedeutet die Anerkennung seines Wertes als Mensch und Staatsbürger.

Bald werden die Schweizer und Schweizerinnen entscheiden müssen, ob die Staatsbürgerschaft ein politisches Recht oder bloss einen Verwaltungsakt darstellt. Im Wissen um ihre Verbundenheit mit der Erde ihrer Väter, den Traditionen, die sie geformt und den Werten, die sie beseelt haben, zweifle ich nicht daran, dass sie der Schweizer Staatsbürgerschaft ihre Würde zurückgeben werden, denn in ihr vereint sich der ganze Stolz und Reichtum unseres kleinen Landes

Oskar Freysinger
Oskar Freysinger
Nationalrat Savièse (VS)
 
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